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In die Infrastruktur investieren und die Menschen mitnehmen

News
Berlin –  07. Dezember 2022

Wie kann der klimagerechte Umbau in Stadt und Land gelingen? Das diskutierten Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing, Verkehrsminister*innen der Länder sowie Spitzenvertreter aus Kommunen, Mobilitätsbranche und Bauindustrie beim 3. F.A.Z.-Mobilitätsgipfel in Berlin. Die hochkarätig besetzte Debatte machte deutlich, dass die Transformation der Mobilität nur gelingen kann, wenn verstärkt in die Systeme investiert wird und die Menschen mitgenommen werden.

Offene Fragen beim Deutschland-Ticket

Der verstärkte Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr ist ein wichtiger Baustein für die Mobilitätswende und das Erreichen der Klimaschutzziele im Verkehrssektor. Der Erfolg des 9-Euro-Tickets in diesem Sommer hat gezeigt, dass die Menschen zur häufigeren Nutzung von Bussen und Bahnen bereit sind, wenn das Angebot bezahlbar und einfach nutzbar ist. Mit dem Deutschland-Ticket für 49 Euro haben Bund und Länder eine Nachfolgelösung geschaffen, bei deren Ausgestaltung es allerdings noch offene Fragen gibt, etwa hinsichtlich des Starttermins. „Die Länder wollen es erst zum 1. April. Ich finde, da geht mehr. Wir sollten ehrgeiziger sein und es schneller umsetzen“, machte Dr. Volker Wissing beim Mobilitätsgipfel deutlich. „Die Bürger warten dringend auf das Deutschland-Ticket, wir sollten sie nicht enttäuschen.“ Die Verkehrsminister*innen der Länder sehen indes nach wie vor Klärungsbedarf hinsichtlich der Finanzierung. Zwar haben sich Bund und Ländern darauf verständigt, jeweils die Hälfte der geschätzten Kosten in Höhe von jährlich 3 Milliarden Euro zu tragen. Unklar ist aber, wer etwaige Mehrkosten übernimmt, die von den Verkehrsunternehmen und Kommunen angesichts der ohnehin schwierigen finanziellen Lage nicht getragen werden können. Die Länder plädieren auch in diesem Fall für eine hälftige Teilung, wie die saarländische Verkehrsministerin Petra Berg betonte: „Für uns als Verkehrsministerinnen und -minister der Länder ist es nur logisch, dass, wenn es solch ein X gibt, auch dieses X geteilt wird.“ Noch deutlicher fiel die Kritik von Oliver Krischer, Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, aus: „Die Summen, über die wir reden, befinden sich im Vergleich zu dem, was in Berlin momentan ansonsten bewegt wird, fast im homöopathischen Bereich. Dass wir da so einen Tanz machen, finde ich ehrlich gesagt ein Armutszeugnis für die Politik.“

Bundesverkehrsminister Volker Wissing beim F.A.Z.-Mobilitätsgipfel.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing beim F.A.Z.-Mobilitätsgipfel.

Das System ertüchtigen und attraktiver machen

Ein attraktives Ticket allein macht aber noch keine Mobilitätswende, auch das wurde in der Debatte deutlich. Um die Menschen langfristig vom ÖPNV zu überzeugen, braucht es ein System mit attraktiven Takten, modernen Fahrzeugen, einer intelligenten Vernetzung der Angebote, gut ausgebildetem Personal, mehr digitalen Services und einer leistungsfähigen Infrastruktur. Das hob auch Guido Beermann, Verkehrsminister von Landes Brandenburg, hervor: „Wir brauchen ein qualitativ gutes Angebot, wenn wir die Verkehrswende wirklich voranbringen wollen. Das wird nur gelingen, wenn wir weiter intensiv daran arbeiten, auszubauen und die Attraktivität voranzubringen. Dabei geht es nicht nur um den urbanen, sondern gerade auch um den ländlichen Raum. Das 9-Euro-Ticket haben dort nur halb so viele Menschen gekauft wie im urbanen Raum.“ Den großen Investitionsbedarf beim Bestand verdeutlichte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff. „Wir haben die Infrastruktur in Deutschland massiv vernachlässigt und über Dekaden zu wenig Geld investiert. Der Ausbau ist natürlich wichtig, wir haben aber gerade im Bestand genug zu tun und andere Aufgaben, die für den Staat und das Funktionieren unserer Gesellschaft extrem wichtig sind. Wir müssen momentan alle Energien daransetzen, unseren Bestand zu bewahren und schneller bei der Modernisierung zu werden.“ Wie das gelingen kann, diskutieren Bund und Länder derzeit in einer Arbeitsgruppe zum „Ausbau- und Modernisierungspakt ÖPNV“.

Podiumsdiskussion der Länderverkehrsminster*innen. Von links: Guido Beermann, Oliver Krischer, Petra Berg und F.A.Z.-Journalist Johannes Pennekamp.
Podiumsdiskussion der Länderverkehrsminster*innen. Von links: Guido Beermann, Oliver Krischer, Petra Berg und F.A.Z.-Journalist Johannes Pennekamp.

Infrastrukturkollaps statt Investitionshochlauf

Investitionsbedarf besteht nicht nur beim öffentlichen Nahverkehr, sondern bei der Infrastruktur insgesamt. Gerade das Straßennetz muss künftig zusätzlich zum Individualverkehr mehr Busse und On-Demand-Fahrzeuge aufnehmen und insbesondere in ländlichen Regionen die Individualmobilität ermöglichen. Kommunen, Verkehrsunternehmen und die Bauindustrie sehen sich bei der konkreten Umsetzung der Mobilitätswende aber mit zahlreichen Hürden konfrontiert, die nicht selten zu einer langfristigen Verzögerung führen. Dazu zählt beispielsweise der zunehmende Fachkräftemangel in Planungsämtern und bei Verkehrsunternehmen. Hinzu kommen die enormen Preissteigerungen seit Beginn des Jahres. So sind die Kosten für den Aus- und Umbau der Infrastruktur aufgrund steigender Rohstoffpreise und gestörter Lieferketten bereits um 20 Prozent gestiegen. Im nächsten Jahr kommen nach Einschätzungen von Tim Lorenz, Vizepräsident Verkehr der Bauindustrie, noch einmal 10 Prozent Inflation hinzu. Statt eines Investitionshochlaufs befürchtet die Bauindustrie daher eher einen Infrastrukturkollaps, zumal der Bundeshaushalt für 2023 diese Kostensteigerungen aktuell nicht abbildet.

Von links: Tim Lorenz, Vizepräsident Verkehr des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Volker Wissing, Bundesverkehrsminister, Karsten Schulze, Technikpräsident des ADAC und Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV.
Von links: Tim Lorenz, Vizepräsident Verkehr des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Volker Wissing, Bundesverkehrsminister, Karsten Schulze, Technikpräsident des ADAC und Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV.

Elektromobilität als Baustein für eine klimafreundliche Mobilität

Karsten Schulze, Technikpräsident des ADAC, stellte heraus, dass das Auto nach wie vor das etablierte Fortbewegungsmittel und gerade für die Menschen in ländlichen Räumen oftmals alternativlos ist. Um die individuelle Mobilität zu erhalten und klimafreundlicher zu gestalten, muss es seiner Ansicht nach bezahlbare E-Autos und eine belastbare Ladeinfrastruktur gerade in den Städten geben. Parallel zur Antriebswende sollte verstärkt auf alternative Kraftstoffe gesetzt werden. Norwegen ist bei der Umstellung auf Elektromobilität einen großen Schritt weiter, das verdeutlichte ein Vortrag der langjährigen Osloer Stadtplanerin Ellen de Vibe. Die norwegische Hauptstadt bezeichnet sich selbst auch als „Stromerhauptstadt“. Rund 80 Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge sind elektrisch unterwegs – eine Entwicklung, die u. a. auf Steuervergünstigungen für E-Autos und teuren Zuschlägen für Verbrenner zurückzuführen ist. Die Anstrengungen der Kommunen in Deutschland für den Ausbau der Ladeinfrastruktur und die Ertüchtigung der Netze betonte Dr. Gerd Landsberg. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes warnte zugleich aber auch vor einer Spaltung der Gesellschaft: „Es gibt kein wirklich gutes Angebot von E-Autos im Niedrigpreissegment, jetzt fällt zudem noch die Förderung weg. Wir müssen vermeiden, dass die Gutverdiener mit dem Elektroauto und als Klimaschützer mit einem tollen Gewissen fahren, während die Geringverdiener im alten Diesel sitzen und sich beschimpfen lassen müssen.“

Für die Transformation der Mobilität braucht es nicht zuletzt die Akzeptanz der Menschen. Das betrifft das Verständnis für den Ausbaus der Infrastruktur vor der eigenen Haustür ebenso wie bei der Umstellung des eigenen Mobilitätsverhaltens. Ein Vortrag von Dr. Uwe Drewitz, Abteilungsleiter im Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), machte deutlich, dass Akzeptanz ein langwieriger Prozess ist, der gefördert wird durch das Öffnen von Gestaltungsräumen, eigenes Erleben sowie durch die Möglichkeit, sich einbringen zu können.

Der F.A.Z.-Mobilitätsgipfel ist eine gemeinsame Veranstaltung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.), des ADAC, des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie und des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Aufgrund organisatorischer Einschränkungen haben die von Corinna Budras und Johannes Pennekamp (beide F.A.Z.) moderierte Konferenz nur rund 130 Teilnehmer*innen vor Ort erleben können, die angeregten Diskussionen verfolgten in der Spitze bis zu 700 Zuschauer*innen über den Livestream auf faz.net. Den allgemeinen Tenor der Veranstaltung fasste VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff zusammen: „Für den klimagerechten Umbau der Mobilität in Stadt und Land braucht es mehr als ein bundesweit gültiges Deutschland-Ticket.“


Redaktioneller Hinweis: Zum Zeitpunkt der Veranstaltung gab es noch keine Einigung zwischen Bund und Ländern bezüglich des Deutschland-Tickets. Mittlerweile haben sich Bund und Länder auf die hälftige Übernahme möglicher Mehrkosten im Einführungsjahr verständigt – auch, wenn diese über die prognostizierten drei Milliarden Euro an Fahrgeldverlusten hinausgehen sollten.

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